Wir sprechen mit Wirkel-Erfinder Fabian Bethge, wie er die Idee für den Wirkel fand, wie sich das Tool weiterentwickelt hat und wie er den Wirkel heute nutzt.
Mitte des Jahres haben wir von RENN.west unser digitales Wirkel-Tool veröffentlicht, seitdem haben sich gut 400 Nutzer*innen registriert, die mit Hilfe des Tools zu den 17 Zielen nachhaltiger Entwicklung aktiv werden möchten. Einzeln oder in einer der mittlerweile rund 35 gegründeten Wirkel-Gruppen sind sie aktiv, nehmen ihre Alltagsroutinen unter die Lupe, sprechen mit Freunden und Bekannten zu Zukunftsfragen oder tragen ihre Botschaften in den öffentlichen Raum. Jetzt zu den Deutschen Aktionstagen Nachhaltigkeit vom 18.9.-8.10.2021 wollen sie noch einmal alles geben und zur #2021WirkelChallenge besonders viele neue Wirkel-Punkte für den Wandeln sammeln. Auch Fabian Bethge, „Erfinder“ des Wirkels, hat sich für die Wirkel-Challenge etwas vorgenommen. Was das sein wird und mit welcher Idee er damals den Wirkel ins Leben gerufen hat, verrät er uns in einem Interview.
Fabian, wie ist es dazu gekommen, dass du „Erfinder“ des Wirkels wurdest?
Im Herzen bin ich tatsächlich Erfinder und ein bisschen Astronaut. Das waren jedenfalls die Berufswünsche meiner Kindheit. Auf jeden Fall hat es mir immer schon gefallen einen Schritt zurückzutreten und mir das Große Ganze anzuschauen. Ich habe dann Medien- und Kommunikationswissenschaften studiert und berate jetzt die öffentliche Verwaltung bei der Digitalisierung. Das Interesse an großen Zusammenhängen war für mich immer mit dem Thema Nachhaltigkeit verbunden. Was ich tue, hat einen Einfluss auf das Leben an anderen Orten und zu anderen Zeiten. Das finde ich eine sehr schöne Vorstellung von Verbundenheit, weil es heißt, dass der Welt nicht egal ist, was ich tue. Welchen Einfluss die oder der Einzelne hat, im negativen, aber vor allem auch im positiven, ist nur leider sehr schwer zu messen und fast nie direkt sichtbar. Das wollte ich ändern.
Und dabei ist der Wirkel entstanden? Mit welcher Idee hast du damals den Wirkel ins Leben gerufen?
Es gab eine Phase, da hat mich das sehr frustriert, dass ich gar nicht sehe, ob ich nun etwas bewirke oder nicht. Zu der Zeit kamen bei mir zwei Dinge zusammen: Zum einen war ich gerade mit einem großen Projekt für eine Online-Plattform gescheitert, eine große Idee ist einfach wirkungslos verpufft. Zum anderen war das die Zeit, als ich in meine erste eigene Wohnung gezogen bin und mir von Grund auf überlegen musste: Wie gestalte ich denn jetzt meinen Alltag? Wie kaufe ich ein? Was stelle ich selbst her? Was koche ich? Mit wem will ich wie in Kontakt bleiben? Wie mache ich Urlaub? Wie kümmere ich mich um meine Gesundheit? Was mache ich in meiner Freizeit mit wem? Und so weiter. Ich war also gewissermaßen gezwungen, mich auf einmal mit sehr kleinteiligen, alltäglichen Fragen zu beschäftigen und die ganz großen Projekte erst einmal loszulassen. Da habe ich mich gefragt, ob ich meine großen Ziele von einer nachhaltigen Welt nicht unrealistisch hoch gesteckt habe. Schließlich können sie nur durch große Projekte erreicht werden, das geht neben der Alltagsbewältigung gar nicht. Und dann kam mir der Gedanke, dass neben den großen Projekten und nötigen Umbrüchen auch noch etwas anderes zählt: Wenn ich meinen Alltag nach meinen großen Zielen ausrichten kann, dann kann ich auch jeden Tag erleben, dass ich etwas für diese Ziele bewirke – dann wäre der Alltag ein ziemlich erfolgreicher Beitrag für eine nachhaltige Welt. Dieser Gedanke war Startschuss für die Entwicklung der Wirkel-Idee.
Wie hast du versucht, die Idee des Wirkels umzusetzen und in die Breite zu tragen?
Ich habe dann vor allem im Internet nach Ideen für einen nachhaltigen Alltag geschaut. Dabei hatte ich zwei Kriterien: Erstens sollten es ganz konkrete Dinge sein, bei denen ich beim Lesen denke: „los geht’s, das mache ich heute“. Zum zweiten sollten es Dinge sein, die persönlichen Nutzen mit allgemeinem Nutzen verbinden. Zudem ist eine Reihenfolge dieser Tätigkeiten entstanden, bei der die späteren teilweise auf den vorherigen aufbauen.
Dieses Glücksgefühl, wenn man eine Aufgabe erledigt hat und direkt die positiven Auswirkungen sieht, das kann man auch als „SelbstWIRKsamkeit“ bezeichnen. Dementsprechend habe ich diese Ideensammlung für einen nachhaltigen Alltag „Wirkel“ genannt. Erst habe ich sie nur für mich erstellt, aber als ich merkte, dass sie meinen Alltag sehr bereichert, wollte ich sie auch mit anderen teilen.
Bei der Umsetzung und Verbreitung des Wirkels bin ich dann nach dem gleichen Prinzip vorgegangen: Ich habe mich gefragt „Was ist die einfachste Variante, die ich direkt umsetzen kann?“ Das war dann eben ein einfacher Flyer. Den habe ich mit ein paar Klicks online drucken lassen und bei einer Jubiläumsveranstaltung der Ökumenischen Initiative Eine Welt e. V., in der ich aktiv bin, verteilt. Das hat einen ziemlichen Schneeballeffekt ausgelöst, weil viele diese Flyer wiederum in die Kreise mitgenommen haben, in denen sie aktiv sind. Er wurde dann mehrfach nachgedruckt.
Jenny aus unserem RENN.west Team ist 2018 zum ersten Mal auf deinen Wirkel aufmerksam geworden. In der Ideenschmiede 2019 von RENN.west wurdest du dann von ihr als Inputgeber eingeladen. Dort wurde deine Idee in einem BarCamp mit jungen Erwachsenen das erste Mal mit den 17 Zielen nachhaltiger Entwicklung (SDGs) in Verbindung gebracht. Was waren deine ersten Eindrücke zu dieser Idee, den Wirkel und die 17 Ziele miteinander zu verknüpfen?
Die Idee, den Wirkel und die SDGs zu verbinden, hat mich sofort begeistert. Es war im Grunde eine logische Weiterentwicklung der ursprünglichen Idee: Große Ziele mit kleinen Schritten zu verbinden, damit die kleinen Schritte nicht bedeutungslos bleiben, sondern sich zu einem größeren Ganzen fügen. Das schöne dabei ist, dass ja wirklich weltweit unzählige Menschen mit ihren kleinen Schritten auf die SDGs hinarbeiten, das ist eine geniale Art der Verbundenheit.
Die Ziele in der ursprünglichen Version des Wirkels waren nicht explizit ausformuliert. Die Handlungsvorschläge ließen sich jedoch grob in die Kategorien Gesundheit, Gemeinschaft, nachhaltige Ressourcennutzung, politische Beteiligung, Bildung und Bewusstsein einteilen. Soweit lässt sich das ziemlich gut auf die SDGs übertragen. Allerdings haben wir auch gemerkt, dass es darüber hinaus auch einige SDGs gibt, die noch gar nicht thematisiert waren. Es gab SDGs, bei denen es uns deutlich schwerer gefallen ist als bei anderen, sie mit dem Alltag mitteleuropäischer Mittelschichtler in Verbindung zu bringen, wie etwa „Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen“, „Kein Hunger“ oder „Leben unter Wasser“. Vieles erscheint uns so selbstverständlich, dass wir uns im Alltag gar nicht darum kümmern, obwohl es beim genaueren Hinsehen auch in diesen Bereichen noch einiges zu tun gibt.
Wie gefällt dir die neue Wirkel-App als Weiterentwicklung des Flyers?
Auch die App finde ich eine sehr schlüssige und konsequente Weiterentwicklung des Wirkels. Von vornherein gab es Überlegungen, den Wirkel als Online-Community aufzusetzen, um den sozialen Aspekt der gegenseitigen Motivation mit einzubeziehen. Das wird mit der App jetzt aufgegriffen.
Benutzt du das Wirkel-Tool denn nun auch selbst im Alltag? Hast du dir konkrete Aufgaben aus dem Wirkel auf deine TuDu-Liste genommen?
Ja. Am Anfang habe ich die App genutzt, um erstmal eine Bestandsaufnahme zu machen: Wo stehe ich gerade? Welche schönen Erfahrungen und Erfolge kann ich mir in Bezug auf die Aktionen noch mal ins Gedächtnis rufen, um darüber zu sprechen? Was ist noch Neuland für mich und würde jetzt richtig gut in meine Situation passen? Dafür finde ich die „TuDu’s“ sehr genial. Hier schaue ich tatsächlich von Zeit zu Zeit rein, um die Themen nicht aus dem Blick zu verlieren.
Was planst du, im Rahmen der #2021WirkelChallenge zu den Deutschen Aktionstagen Nachhaltigkeit umzusetzen?
Ich habe mir vorgenommen, im Sinne der Wirkel-Aufgabe zu SDG17 ein Motto-Shirt drucken zu lassen, das ausdrückt, was mir besonders wichtig ist. Sagen, was uns wichtig ist, ist eine ganz große Baustelle in unserer Gesellschaft. Das müssen wir wirklich wieder lernen, sonst drehen wir uns im Kreis. Außerdem war ich durch Corona so lange nicht mehr einkaufen, dass mir die T-Shirts ausgehen…
Gemeinsam als Gruppe oder alleine zu wirkeln hat das Ziel, Selbstwirksamkeitserfahrungen zu ermöglichen, das hast du ja schön beschreiben. Diese Erfahrung möglichst vielen Menschen zu ermöglichen wäre natürlich klasse. Was braucht es deiner Meinung nach noch, damit mit dem Wirkel auch neue Zielgruppen erreicht werden können, die bisher weniger intensiv über Nachhaltigkeit nachdenken?
Die starke Do-It-Yourself-Bewegung ist meiner Meinung nach ein Hinweis darauf, dass das Erlebnis von Selbstwirksamkeit einen großen Teil der Bevölkerung anspricht, unabhängig davon, ob sie sich im herkömmlichen Sinne für Nachhaltigkeitsthemen interessieren. Je praktischer und handfester die Handlungsideen sind, sei es z.B. das Herstellen von eigenen Putz- oder Waschmitteln oder das Upcycling von Dingen, um sie vorm Abfall zu retten, desto leichter wird es meiner Meinung nach sein, neue Zielgruppen anzusprechen.
Durch die App hat der Wirkel den Schritt ins Digitale gemacht. Auch darin sehe ich große Chancen, was die Kommunikation zu Nachhaltigkeitsthemen angeht: Wenn es die Möglichkeit gibt, direkt mit Freunden zu teilen, „ich habe heute zur Verwirklichung eines globalen Entwicklungsziels beigetragen, das hat richtig Bock gemacht, hier steht wie es geht: …“ kann das eine große Dynamik entwickeln. Vielleicht lässt sich die App auch in Zukunft für weitere Handlungsvorschläge öffnen, die von Nutzern vorgeschlagen werden, sodass eine wachsende Sammlung kleiner Schritte entsteht für eine Welt, die wir uns alle wünschen.